Noch immer unerledigt: Die Welteislehre
von unserem Gastautor Dr. Horst Friedrich
In mehr als einer Hinsicht erscheint es bedauerlich, dass die »Welteislehre«, die einst so viel von sich reden machte, so gänzlich der Vergessenheit anheim gefallen ist. Bedauerlich nicht nur vom wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkt her. Bis zum heutigen Tage ist keine wissenschaftsgeschichtliche Arbeit über den nach-cuvierschen (Neo-)Katastrophismus erschienen. Bedauerlich ist dieses Vergessen vor allem wegen der gewissermaßen »geballten Anregungskraft«, die der Welteislehre innewohnte.
Der Verfasser vermutet (vielleicht weil es ihm selbst schon in jungen Jahren so ging), dass das 1913 herausgebrachte Hörbiger-Fauthsche Monumentalwerk »Glazial-Kosmogonie«1 einer verhältnismäßig großen Zahl von Menschen zur bleibenden Anregung wurde, ihr Interesse den Naturwissenschaften (besonders den Erde-Kosmos-Zusammenhängen) und der Vorgeschichte zuzuwenden. Was unsere Schulwissenschaft mit ihren uninspirierend knochentrocken mathematischen Abhandlungen leider so gar nicht vermag! Die mitteleuropäische Mentalität liebt es nun einmal, wenn ihr die Weltzusammenhänge in Form lebendiger, »barocker« Szenarien-Gemälde vermittelt werden.
Die Schulwissenschaft hatte die Welteislehre von Anfang an als gänzlich abwegiges Fantasieprodukt diffamiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte dann die Hinneigung gewisser Kreise des »Dritten Reiches« zur Welteislehre2 einen willkommenen Anlass, jegliche Erinnerung an diese Erz-Häresie nach Möglichkeit auszulöschen. Wollten wir aber alles, womit sich irgendwann einmal auch geächtete Segmente des Menschengeschlechtes beschäftigten, ausgrenzen, so bliebe wohl nichts mehr übrig.
Zwar hat sich Hörbiger in einem Hauptpunkt seines zunächst intuitiv »empfangenen« Szenarios3 - ebenso übrigens wie der große Mond- und Planetenbeobachter Fauth - geirrt: der Mond und die inneren Planeten (Merkur, Venus, Mars) sind keine »uferlosen Eisozeane«. Nun ja, dergleichen Irrtümer kommen auch bei der Schulwissenschaft alltäglich vor! Ist deswegen die Welteislehre »erledigt«? Mitnichten! Sie mag zwar sozusagen ihren Prozess in erster Instanz verloren haben. Aber der Fall ist immer noch unerledigt, kann noch keinesfalls »abgehakt« werden. Eine kompetent geführte Revisionsverhandlung wird notwendigerweise das Pauschalurteil der ersten Instanz weitgehend verwerfen und zu einem differenzierteren und gerechteren Urteil gelangen müssen. Viele Thesen oder Teil-Aspekte des Hörbigerschen Szenarios haben sich nämlich als im Kern, wenn auch nicht im Detail, als zutreffend, oft auch ihrer Zeit weit voraus, erwiesen. Die wichtigeren seien nachstehend stichwortartig aufgezählt und kommentiert.
Die Welteislehre denkt interdisziplinär. Sie war in dieser Hinsicht ihrer Zeit weit voraus und nahm damit die - genau genommen - einzig erlaubte wissenschaftliche Haltung ein.
Die Erde-Kosmos-Zusammenhänge. Noch niemals zuvor, so weit wir geschichtlich zurückblicken können, war die grundlegende Tatsache der Erde-Kosmos-Zusammenhänge derart ins abendländische Bewusstsein gerückt worden. Typisch in dieser Richtung etwa die Abbildung aus dem Hörbiger-Fauthschen Magnum opus (S. 123). Zu dieser Abbildung muss kommentierend erläutert werden, dass die Autoren der Glazial-Kosmogonie eine Doppelnatur des leuchtenden Bandes der Milchstraße postulierten. Nach ihnen blicken wir dort zwar einerseits auf eine galaktische Sternansammlung, der jedoch - uns viel näher gelegen - eine transneptunische Kometenwolke vorgelagert sei.
Die prähistorischen Kataklysmen. Der Vater der Welteislehre war bekanntlich der Mittlere in der Reihe der drei großen, nach-cuvierschen Katastrophisten: Donnelly, Hörbiger, Velikovsky. Diesen drei Männern ist es primär zu verdanken, dass der Katastrophismus immer wieder neu auflebte, der Lyellistischen Ideologie zum Trotz. Die Glazial-Kosmogonie beleuchtet vielfältig die Unwahrscheinlichkeit der schulwissenschaftlichen Szenarien zu Gebirgsbildung/Kohleflözentstehung/Sedimentierung/erratischen Blöcken und konstatiert, dass Fossilisierung nur in einem katastrophischen Szenario vorstellbar ist. Es entsteht die Frage: Hatte Velikovsky bei Hörbiger »aufgetankt«? Velikovsky nannte wohl nicht alle seine Quellen. Noch weniger kann man wohl bei ihm einen Hinweis erwarten, dass er bei der vom Hitler-Regime favorisierten Welteislehre »aufgetankt« hätte.
Die zirkumplanetare Kometenwolke. Dieses, bereits oben angesprochene Hörbigersche Postulat eines transneptunischen Kometen-Reservoirs feierte in neuerer Zeit, in etlichen Varianten, fröhliche Auferstehung, freilich ohne Hinweis auf den wahren Vater der Idee. Und in der Tat werden heute die Kometen, nicht unähnlich dem Welteislehre-Szenario, als zu großen Teilen aus Eis (wenn auch nicht notwendigerweise nur Wasser-Eis) bestehend angesehen.
Die Sonnenfleckenkurvenberechnung. Nach Hörbiger stürzen ständig aus jener Kometenwolke stammende Eisbrocken von Berg- bis Planetoidengröße in die Sonne und erzeugen dabei die Sonnenflecken. Auf dieser Basis rechnend gelangte Hörbiger, unter Berücksichtigung der Bahnstörungen durch die Riesenplaneten Jupiter/Saturn, zu einer theoretischen Sonnenfleckenkurve, die tatsächlich, in Amplitude und Periodizität, die allergrößte Ähnlichkeit mit der empirisch beobachteten Sonnenfleckenkurve aufwies. Es sieht also fast so aus, als ob im Grundsätzlichen »etwas dran« sein müsse am Hörbigerschen Szenario.
Es mögen diese markanten Teil-Aspekte des Hörbigerschen Szenarios genügen, die große zu weiteren Forschungen anregende Potenz zu zeigen, die der Welteislehre auch heute noch innewohnt. Als weitere Kurz-Stichworte sollen die Hörbigerschen Zweifel an der Gültigkeit des Newtonschen Gravitationsgesetzes (Abnahme der Gravitationskraft mit 1/r2) für transneptunische Entfernungen, sein Eiszeiten-Szenario, seine Erklärung des Zodiakallichtes und seine Betrachtungen zur Parallelität zwischen Meteoritenfällen und terrestrischen Wetter-Phänomenen erwähnt sein.
Fassen wir zusammen: Auf der einen Seite mag zwar beim Hörbigerschen Gedankengebäude die Unhaltbarkeit gewisser Hauptpunkte schwer in die Waagschale fallen und in gewissem Umfange die Abstempelung der Welteislehre als barock-individualistische Irrlehre rechtfertigen. Auf der anderen Seite dürfte aber dieses Minus mehr als aufgewogen werden durch das große Plus, dass die Welteislehre - ungeachtet des Minus - in noch viel wichtigeren grundlegenden Punkten ihrer Zeit weit voraus war, die Dinge im Prinzip richtig sah, und dass sie insbesondere von potenziell enormer Fruchtbarkeit als Anregung/Ausgangspunkt für weitere Forschungen war. Es wäre ein würdiger Gegenstand für eine wissenschaftsgeschichtliche Dissertation, diesen Dingen nachzugehen. Und unsere zeitgenössische Neo-Scholastik würde gut daran tun, eingedenk ihrer eigenen Fragwürdigkeiten und Windigkeiten nonkonformistische »Häresien« nicht immer gleich in Bausch und Bogen zu verurteilen, sondern vielmehr zu prüfen, ob nicht auch Gutes und Wertvolles in ihnen zu finden ist.
© Horst Friedrich, veröffentlicht in EFODON-SYNESIS Nr. 7/1995
http://efodon.de/html/archiv/wissenschaft/friedrich/welteislehre.html