Rätselhaftes Çatal Hüyük

von Michael Baigent

Abb. 1 Terrakottafigurine (leider ohne Kopf) der gebärenden Muttergöttin aus Çatal Hüyük. Flankiert von zwei Löwen thront die Göttin auf einem Sitz; unter ihren Füßen (von denen einer abgebrochen ist, oder wurde) zermalmt sie als Herrin über Leben und Tod menschliche Schädel.

In der kahlen anatolischen Hochebene im Zentrum der Türkei, 50 km südöstlich der Provinzhauptstadt Konya, liegen zwei Hügel, in denen sich die uralten Ruinen von Çatal Hüyük verbergen, der ältesten Stadt der Welt. [1]

Dieses große Gemeinwesen der Steinzeit erschien aus dem Nichts. Es gibt keine bekannten Orte, an denen seine Bewohner ihre technischen Fertigkeiten, ihre Religion mit ihren komplexen Tempeln und ihre Fähigkeit, eine auf städtischem Handel und auf Ackerbau basierende Lebensweise zu entwickeln, hätten erwerben können. Diese hochentwickelte Kultur erblühte urplötzlich auf dem fruchtbaren Hochland, als sei sie auf mysteriöse Weise von anderswoher an Ort und Stelle gelangt.

Für Archäologen und Historiker markiert diese Stadt (Abb. 2) den Ursprung der Zivilisation, genauer gesagt, den Beginn einer von Siedlungen und Ackerbau, die als Jungsteinzeit oder Neolithikum bezeichnet wird. Der Engländer James Mellaart, der dort als erster Grabungen durchführte, schrieb voller Begeisterung: "Die in Çatal Hüyük zum Vorschein gekommene Zivilisation leuchtet wie eine Supernova in der eher düsteren Galaxie der zeitgenössischen bäuerlichen Kulturen [...] Ihre prägnanteste Wirkung hatte sie nicht im nahen Osten, sondern in Europa, denn in diesen neuen Kontinent sandten die neolithischen Kulturen Anatoliens die Anfänge des Ackerbaus und der Viehzucht, aber auch der Kult einer Muttergottheit, der die Basis unserer Zivilisation darstellt." [2]

Man hat in Çatal Hüyük Belege für eine bis dahin beispiellose technische Kunstfertigkeit entdeckt - hunderte von Messern, Dolchen, Pfeil- und Speerspitzen aus Feuerstein und Obsidian, durchweg Produkte eines ebenso unglaublichen wie einzigartigen Könnens, das ein wesentlich höheres Niveau aufweist als das anderer bekannter Kulturen des Nahen Ostens. Obsidian beispielsweise ist ein extrem hartes vulkanisches Glas, dessen Splitter eine Kante haben, die so dünn ist wie ein Molekül und wesentlich schärfer als jedes moderne Messer.

Entdeckt wurden ferner stark polierte Obsidianspiegel, sauber durchbohrte Perlen, Juwelen und Textilarbeiten von höchster Kunstfertigkeit, darunter Teppiche. Dies alles weist auf einen hohen Lebensstandard hin. Die Bewohner der Stadt benutzten allerdings keine Keramik, sondern Behälter aus Holz und Flechtwerk, deren Raffinement und Perfektion zur damaligen Zeit ohne Beispiel ist.

Abb. 2 Zeichnerische Darstellung eines kleinen Teilbereichs der Stadt Çatal Hüyük

Das technische Niveau der Menschen von Çatal Hüyük war so hoch, daß noch immer nicht bekannt ist, wie sie manche Gegenstände herstellten. Wir wissen nicht, wie sie ihre harten Obsidianspigel polierten, ohne einen einzigen Kratzer zu hinterlassen; zudem hat man teils aus Obsidian gefertigte Steinperlen gefunden, deren Löcher so fein gebohrt sind, daß keine moderne Nadel hindurchpaßt. Man kann sich unmöglich vorstellen, wie diese Perlen ohne den Eisatz sehr harter Metallbohrer entstanden sein könnten. [3] Auf irgeneine Weise waren jene Menschen aber zur Herstellung solcher Dinge in der Lage, und vielleicht werden wir ihr Geheimnis eines Tages auch erfahren.

Im Zentrum der hochentwickelten und komplexen Religion von Çatal Hüyük stand offenbar eine Muttergottheit (Abb. 1), die drei verschiedene Gestalten umfaßte: Eine junge Frau, eine Schwangere und eine Greisin. Allein in dem sehr kleinen Teil der Stadt, den man bislang ausgegraben hat, wurden über 40 diesem Kult gewidmete Heiligtümer entdeckt, die allerdings nicht alle gleichzeitig benutzt wurden.

Nach Ansicht der Archäologen ist die städtische Kultur von Çatal Hüyük einzigartig. Es gibt keine erkennbaren Vorbilder und keine Orte in der Nähe, an denen die Bewohner ihre Fähigkeiten erworben haben könnten. [4] Irgendwo müssen die Menschen von Çatal Hüyük ihre handwerklichen Fähigkeiten aber gelernt haben. In uns bekannten zeitgenössischen Gemeinschaften wie jenen von Jericho im Jordantal oder von Jarmo im kurdischen Hochland war dies jedoch nicht möglich, denn dort gab es nichts, was dem kulturellen und handwerklichen Niveau von Çatal Hüyük auch nur entfernt gleichgekommen wäre.

Die Vorstellung, eine derart hohe urbane Kultur sei um 8000 v. Chr. unvermittelt aus dem Nichts entstanden, ist ohnehin absurd. Es ist vollkommen klar, daß ihre Vorläufer sich wesentlich früher und an einem anderen Ort entwickelt haben müssen. Die Frage lautet: wo und wann?


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Michael Baigent © wurde seinem Buches "Das Rätsel der Sphinx", entnommen, das 2002 in der Übersetzung von Michael Kleinschmidt als vollständige Taschenbuchausgabe in der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. (München) erschienen ist. (englischsprachige Originalausgabe 1989)

  1. Red. Anmerkung: Wir möchten hier eine präzisere Definition, nämlich "älteste wissenschafts-offiziell anerkannte Stadt" vorschlagen.
  2. Quelle: James Mellaart, "Earliest Civilizations of the Near East", S. 77
  3. Quelle: James Mellaart, "Çatal Hüyük", S. 251
  4. Red. Anmerkung: Möglicherweise gibt es sehr wohl Anzeichen für eine potentielle, spät-paläolithische Vorläuferkultur in der Region, siehe Göbekli Tepe


Bild-Quellen

(1) Archiv Prof. U. Bahadir Alkim

(2) http://www.anarheologija.org --- nach: Catal Huyuk and the ‘Semi-Grid’ Pattern