Atlantis als neolithisches Zentrum im nordwestlichen Schelf des Schwarzen Meeres

Buchbesprechung von Sophie Retledge

Abb. 1 Titelseite des Buches

Obwohl es nun eigentlich schon genug zum Thema Atlantis zu lesen gibt, ist trotzdem letztes Jahr ein Buch von Peter Gower unter dem Titel "Auge des Logos" mit satten 1636 Seiten publiziert worden. In diesem Werk wird mit einer neuen Hypothese zum Thema Atlantis ein großer kultur- und entwicklungsgeschichtlicher Bogen geschlagen. Der rote Faden dieses Buches läuft etwa so:

Im Neolithikum entstand in sogenannten goldenen Dreieck um Göbekli Tepe, einem inzwischen berühmten Ausgrabungsplatz in der heutigen Südtürkei, die erste neolithische Hochkultur, die nach 8.000 v.Chr. offensichtlich aufgrund eines einsetzenden Klimawandels unterging. Laut dem Buch wanderte diese Kultur in die Schwarzmeersenke, die zu jener Zeit nicht mit dem Mittelmeer verbunden war, sondern einen von den osteuropäischen Flüssen gespeisten Süßwassersee, ähnlich dem Kaspischen Meer, bildete. Der Bosporus war trocken, weil der Meeresspiegel 70 m bis 120 m tiefer als heute lag. Im nordwestlichen Schelfbereich zwischen Donaumündung und Krim lag eine Inselwelt, in der sich die aus dem goldenen Dreieck eingewanderte Kultur etablierte und weiterentwickelte. Diese Kultur wird in dem Buch als Atlantis angesehen. Die Kultur soll sich aus dem Inselreich auch über die angrenzenden Regionen vom Balkan über die Karpaten, die ukrainischen Steppen bis an den Kaukasus ausgedehnt und die Vinca- sowie Kurgankulturen umfasst haben. Der atlantische Herrscherberg war laut Hypothese die bis heute aus dem Schwarzen Meer ragende Schlangeninsel, etwa 35 km vor dem Donaudelta.

Um 4.000 v.Chr. kam es durch ein Erdbeben zum Aufbrechen des Bosporus, womit sich das inzwischen auf heutiges Niveau gestiegene Marmarameer in die Schwarzmeersenke ergoss und so die Sintflut und damit den Untergang von Atlantis einleitete. Das flache Schelfgebiet mit seinen Inseln ging unter, die zentrale Herrscherkultur sowie die umliegenden Vasallenreiche gerieten in eine umfassende Fluchtbewegung. Die jeweiligen Flüchtlingsströme führten in verschiedenen Gegenden, etwa nach Sumer und Ägypten, aber auch in die Levante und nach Indien und China sowie am Ende auch nach Griechenland und Italien zu erneuten Gründungen von erfolgreichen Zivilisationen. Dort wurde das überlegene technische Wissen aus Atlantis genutzt und weiterentwickelt. Auch mythische Erinnerungen an Atlantis blieben erhalten. Der Untergang und die Fluchterfahrungen waren ein zentrales Geschichtsereignis der frühen Menschheit.

Abb. 2 Prinzipschema zu Atlantis vor der Flut: Blau: Neolithischer Süßwassersee, grau: Tiefland, heute überflutet, sm: Heutiges Schwarzmeer mit am: Asowschen Meer, po.: Pontos, sch. Schelfkante, ok: Okeanos Potamos (Sirbonisches Meer( mit AT: Atlantisinseln (Sinear, Nod, Garten des Hades), davon eine große Hauptinsel mit der Stadt Babel B und mit dem zentralen Berg S und Nysa-Ebene E. Seitenarme und Schwemmland st: Styx, ac: Acheron, as: acherusischer See, ma: Marmarameer. Z. Zugang zur Unterwelt / seichter Übergang; RA: Rennbahn des Achilles, He: Hesperiden, Hy: Hyperboräer. Flüsse: d1: Donau (Lethe), d2: Dnjestr (Tyras, Acheron), b: Bug (Hypanis, Kokytos), d3: Dnepr (Pyrinplegethon, Eridanos, d4: Don (Tanaïs). Gebirge: BO: Bosporus, KA: Karpaten, TA: Taurus, PO: Pontos, GK: Großer Kaukasus. Regionen: I. Europa, II. Libyen, III. Asien. Grafik GwoerA

Das Buch trägt nun eine Überfülle an Indizien aus den verschiedensten Kulturen zusammen, die zeigen sollen, dass in allen Mythen von China über Sumer bis Rom dieselbe atlantische Geschichte zugrunde liegt, ob Argonauten, Odyssee, Aeneas, Abraham, Isis oder der indische Vritra-Zyklus. Alle erzählen Teile des gleichen Sachverhaltes aus unterschiedlichen Perspektiven. Denn das Buch geht davon aus, dass die Vorgänger der späteren Hochkulturen um das Nordwestschelf im Süßwassersee des Schwarzmeerbeckens direkte Nachbarn und gemeinsam von der Bosporuskatastrophe betroffen waren, jedoch in unterschiedlicher Weise reagierten. Und so sind die gleichen Elemente in die jeweiligen Mythen eingeflossen bis hin zur Unterwelt, die als das untergegangene Atlantis angesehen wird. Ob in der griechischen, ägyptischen oder indischen Überlieferung zur Unterwelt, überall lässt sich laut dem Buch die Geographie von Atlantis im Schwarzmeerbecken erkennen. Die unglaublich vielen Details aus zum Teil ziemlich unbekannten Überlieferungssträngen wie etwa von den Jesiden werden ergänzt durch große Hypothesen. So soll der römische Mithraskult direkt auf das Stieropfer der Atlantiskönige auf dem Herrscherberg zurückgehen. Dabei wird nicht nur in den symbolischen Details eine überraschend große Stimmigkeit gezeigt, sondern auch die spezifische astronomische Tierkreissymbolik des Mithraskultes auf dieses Opfer in Atlantis zurückgeführt und ein erstaunlicher Kreuzungspunkt der Atlantisüberlieferung und der Ausformung des Tierkreises dingfest gemacht: Platon!

Das Buch verfolgt bei der Formulierung seiner Hypothesen eine streng rationale Argumentation und versucht, die gesamte Mythologie in natürlich-normale Annahmen zu zerlegen und dabei religiöse wie spirituelle und esoterische Erklärungen als Missverständnisse, schlimmstenfalls als mutwillige Vernebelung auszuschließen. Der Autor sieht Mythen nur als merktechnische Kodierung von realen Fakten für ein orales Medium, die deshalb so bunt und wundersam formuliert werden, damit sich die Menschen über viele Generationen immer wieder die Mühe machen, diese Mythen auswendig zu lernen und weiterzugeben. Entsprechend erklärt der Autor seinen Ansatz nachrichtentechnisch: Es gab ein starkes Ausgangssignal, nämlich das Ereignis der Sintflut beziehungsweise des Untergangs von Atlantis. Dieses ist auf verschiedenen Kanälen in die heutige Zeit übertragen worden, dabei sind in jedem Kanal zufällig Fehler entstanden, Informationen verloren gegangen und falsche Informationen hinzugefügt worden. Der Autor legt nun mit seinem nachrichtentechnischen Ansatz alle Kanäle übereinander. Während die zufälligen Störungen sich zu einem Grundrauschen vereinigen, wird das originale Signal verstärkt und somit deutlicher sichtbar. Allerdings schließt der Autor aus, dass sein Buch wissenschaftlich sei. Geboten würden Hypothesen und Anregungen, die einer wissenschaftlichen Verifizierung harren.

Abb. 3 Lage des Schwarzen Meeres

So setzt sich der Autor auch im fünfundvierzigsten der fünfzig Kapitel mit den Stand der Wissenschaft auseinander, nach der es Atlantis nie gegeben haben kann. Er stimmt der etablierten Wissenschaft voll zu, was den Leser, der zuvor auf tausend Seiten viel über Atlantis gelesen hat, ratlos stimmt. Die Auflösung, die das Buch für dieses Dilemma anbietet, ist dann bemerkenswert. Der Autor will nicht nur für seine Betrachtung ausschließlich rein rationale Argumente gelten lassen, vielmehr unterstellt er der ganzen zivilisatorischen Geschichte, dass sie durch ‚Protowissenschaftler‘ genannte, rationale Akteure vorangetrieben würde. Atlantis wird in diese zivilisatorische Entwicklung Menschheit eingebettet und als deren Schlüsselphase vorgestellt. Insofern ist „Auge des Logos“ ein untypisches Atlantisbuch, da es nicht krampfhaft eine Atlantisthese zu belegen sucht, sondern sich diese These aus diesem Entwicklungsprozess von selbst entfaltet. In den Grundlagen entspricht der Ansatz den von Pitman und Ryan vorgelegten Überlegungen einer Schwarzmeerflut und den daran anschließenden Ableitungen wie etwa von Schoppe & Schoppe. Der Autor gibt auch direkt zu, dass die etablierte geologische Wissenschaft inzwischen ein sintflutartiges, plötzliches Überlaufen des Bosporus mehrheitlich ablehnt und auch einen wesentlich früheren Zeitpunkt für die Verbindung durch den Bosporus annimmt. Der Autor argumentiert an der Stelle, dass falls sich die Wissenschaft hier irren sollte – wofür er eine Erklärungsmöglichkeit in Form einer Sedimentbarriere am Goldenen Horn anführt – und doch erst später ein katastrophaler Durchbruch mit einer Sintflut stattfand, sich die zivilisatorische Entwicklung mit all ihren archäologischen, linguistischen und mythischen Belegen zu einem stringenten Bild fügen würde. Mit Atlantis an zentraler Position.

Das Buch ist über weite Strecken interessant und packend geschrieben, hat aber auch Längen und verliert sich an manchen Stellen in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Wer direkt mit der Atlantis-Argumentation einsteigen will, sollte direkt zum Kapitel IX. springen. Der Autorenname Peter Gower ist ein Pseudonym, wie der Abspann angemerkt wird. Unbefriedigend ist, dass zwar reichlich Fußnotennummern im Text vorhanden sind, die Belegstellen jedoch im Buch nirgends angegeben sind. Sie sollen anderweitig zu finden sein, wo auch immer.

Das Buch ist offensichtlich nur digital als pdf-Datei erhältlich. Im Internet Archive, einer gemeinnützigen Organisation in San Francisco, USA, die eine der weltweit größten digitalen Bibliotheken betreibt, kann das Buch kostenfrei und ohne Anmeldung, ohne Werbung oder andere Barrieren angeschaut oder heruntergeladen werden:

https://archive.org/details/auge-des-logos/

Auf dieser Seite ist ein Viewer vorhanden, um das Buch direkt im Browser zu lesen. Rechts etwas weiter unten werden in einem schwarzen Kasten verschiedene Downloadoptionen angezeigt, man klicke am besten auf "PDF". Die Buchdatei mit vielen informativen Bildern benötigt 32 MB und ist gut auf einem Tablet zu lesen. Auf dem Portal www.academia.edu steht das Buch, zerlegt in kleinere Kapitelblöcke, auch zum herunterladen zur Verfügung. Hier braucht man aber in der Regel eine Registrierung für ein Zugangspasswort.

Bilquellen

Abb. 1: https://archive.org/details/auge-des-logos/

Abb. 2: ebenda, Screenshot von Abb.XII.7 auf Seite 314

Abb. 3: NormanEinsteinderivative work: NNW, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons