Pseudowissenschaft

"Der Begriff sagt mehr über diejenigen aus, die ihn benutzen, als über diejenigen, auf die er angewendet wird." (Michael Hagner [1])

Gedanken zur Vorbereitung einer 'Grabrede' auf eine terminologische Altlast

(bb) Mit dem, im modernen Wissenschaftsbetrieb, aber vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur, inflationär verwendeten, Begriff "Pseudowissenschaft" - von griech. pseudēs ("falsch"); sowie: pseúdein bzw. pseúdomai ("belügen", "täuschen") - werden allgemein so genannte 'Irrlehren' bezeichnet, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, der seitens der Schulwissenschaft – zu Recht oder auch zu Unrecht - infrage gestellt oder bestritten wird.

Dabei wird dieser, mit "falsche Wissenschaft", "Lügenwissenschaft" oder "vorgetäuschte Wissenschaft" zu übersetzende, Begriff in aller Regel nur auf Aussagensysteme oder Lehren bzw. auf deren Vertreter ("Pseudowissenschaftler") angewendet, die außerhalb des Bereichs der Schulwissenschaft angesiedelt sind, während für "falsche" oder "vorgetäuschte Wissenschaft" innerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs der abweichende Begriff "Junk Science" (von engl. junk = "Abfall", "Müll") Anwendung findet.

Im Rahmen eines Versuchs zur Begriffsbestimmung des Ausdrucks Pseudowissenschaft ergibt sich aus dieser vergleichenden Feststellung einer der wenigen, halbwegs eindeutigen, Hinweise auf seine Bedeutung: Im Gegensatz zum Terminus Junk Science, dessen Verwendung (im Sinne von pseúdein bzw. pseúdomai) bewusste Täuschung oder Betrug im Bereich der Schulwissenschaft - oder auch im Namen der Wissenschaft - impliziert, haben wir es bei Pseudowissenschaften offenbar mit (zumindest weitgehend) außeruniversitären Aussagensystemen zu tun, die (im Sinne von pseudēs) in Hinblick auf ihre Aussagen und das Zustandekommen derselben aus universitär-wissenschaftlicher Sicht als "falsch", aber nicht als "bewusst (ver-)fälschend" zu betrachten sind. Und so stellt z.B. auch Martin Marheinecke fest, "daß die meisten Anhänger einer Pseudowissenschaft keine Scharlatane oder gar Betrüger sind - sie glauben meistens aufrichtig ihren, manchmal absurden, Ideologien." [2]

Im übrigen scheint sich, um es bildhaft zu formulieren, der Begriff Pseudowissenschaft dem Bemühen um eine terminologisch eindeutige Definition ebenso erfolgreich zu entziehen wie ein Pudding dem Versuch, ihn an die Wand zu nageln. Während bei der Schnellrecherche im Internet zu "Pseudowissenschaft" mit einer gängigen Suchmaschine heute ungefähr 77.000 Treffer zu erzielen sind [3], scheinen die großen Wörterbücher, Lexika und Enzyklopädien sich in Bezug auf Definitionen dieses Begriffs traditionell eine zunächst erstaunlich anmutende Zurückhaltung aufzuerlegen.

Denn wer, wie der Medizin-Historiker Dr. Michael Hagner konstatiert, "der Hoffnung anhängt, darin eine einigermaßen kohärente Beschreibung zu finden, an der man sich orientieren kann, sieht sich getäuscht. Weder die große 'Encyclopédie' Diderots und d'Alamberts noch 'Pierers Universallexikon' von 1844; weder die 'Encyclopedia Britannica' von 1902 noch diejenige von 1987; weder der 'Brockhaus' von 1933 noch der 'Grand Larousse' von 1963; weder 'Meyers Neues Lexikon' von 1975 noch der 'dtv-Brockhaus' enthalten das Lemma >Pseudowissenschaft<." [4]

Wie wir sehen, existiert so etwas wie eine 'offizielle Definition' (oder auch im Plural: 'offizielle Definitionen') zu dem nachweislich sehr häufig verwendeten Begriff Pseudowissenschaft überhaupt nicht. Warum die Begriffsbestimmung jedoch gerade für professionelle Enzyklopädisten ein Problem darstellen muss, erläutert uns Hagner folgendermaßen: "Die Schwierigkeit einer Definition dessen, was eine Pseudowissenschaft ausmacht, lässt sich an zwei Punkten illustrieren, die sorgfältig voneinander getrennt werden sollten. Erstens haben sich die Philosophen, von jeher für das Geschäft der Definition zuständig, an diesem Begriff die Zähne ausgebissen. [5] [...] Und zweitens ist der Begriff Pseudowissenschaft ein Akteursbegriff, der in besonderer Absicht verwendet wird. Eine solche Zuschreibung" erfolgt, wie Hagner feststellt, "in pejorativer Absicht, um eine bestimmte Lehre oder Praxis zu isolieren, sie aus dem wissenschaftlichen Bezirk auszugrenzen.

Insofern ist Pseudowissenschaft ein politischer Kampfbegriff, der die Vertrauenswürdigkeit einer bestimmten Lehre und derer, die sie vertreten, in Misskredit bringen soll, um dagegen eine wie auch immer definierte Reinheit, Unabhängigkeit und Nicht-Kontaminierbarkeit der Wissenschaften zu behaupten. Genau das ist Gegenstand einer ziemlich umfangreichen Literatur von amtlich bestellten oder selbsternannten Verteidigern der Wissenschaften, die sich des Themas mit Elan und bisweilen geradezu pfaffenhaftem Eifer angenommen haben. Ein Buch ähnelt dem anderen im Gestus der Empörung, in der Wahl der Argumente, auch wenn sich die Sujets voneinander unterscheiden." [6]

Beispielhaft für den von Hagner festgestellten, nach Ansicht des Verfassers durchaus unwissenschaftlichen, Charakter des Ausdrucks Pseudowissenschaft als "politischer Kampfbegriff" ist seine agitatorische Verwendung in Kreisen der so genannten Skeptikerbewegung, einer weltanschaulich-kämpferischen Strömung von, um Hagners Formulierung aufzugreifen, "selbsternannten Verteidigern der Wissenschaften". [7] Der Soziologe Dr. Edgar Wunder - selber ein Gründungsmitglied und langjähriger Funktionär der im Oktober 1987 gegründeten "Skeptiker"-Organisation "Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP)", der 1999 aufgrund seiner zunehmend kritischen Haltung den dort herrschenden Zuständen gegenüber (quasi wegen 'Abweichlertum') aus der Organisation ausgeschlossen wurde [8] und heute einer ihrer profiliertesten Kritiker ist - betrachtet es als ein "typisches Merkmal des >skeptischen< Diskurses", "dass die Begriffe >Pseudowissenschaft< und >Parawissenschaft< synonym verwendet werden. [9] Ganz deutlich wird dies etwa in dem 1999 von der GWUP herausgegebenen kleinen >Lexikon der Parawissenschaften<." [10]

Dort heißt es zum Stichwort 'Parawissenschaft': "Parawissenschaft / Pseudowissenschaft / Pseudotechnologie: Eine Pseudowissenschaft (gr. pseudos = Unwahrheit, Täuschung) ist ein Unternehmen, das für sich in Anspruch nimmt, auf wissenschaftliche Weise Erkenntnis zu erlangen, dem Anspruch wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns aber nicht genügt. So verwenden Ps.n nicht die wissenschaftliche Methode [...] Ps.n sind durch Stagnation gekennzeichnet, d.h. es ist kein oder so gut wie kein über die ursprünglichen Behauptungen hinausgehender Erkenntniszuwachs zu verzeichnen. Veränderungen im Aussagenbestand einer P. treten allenfalls durch Schisma, Schulenbildung oder beliebige Hinzunahme neuer Glaubenssätze auf, nicht durch Forschung [...] Beispiele für eine P. sind: Kreationismus, Dänikensche Archäologie, UFOlogie und Parapsychologie. Viele der landläufig als Pseudo- und Parawissenschaften bezeichneten Unternehmungen sind jedoch nicht [...] primär mit 'Welterkenntnis' beschäftigt, sondern sind angewandte Disziplinen, denen es um die Konzeption und Anwendung praktischer Hilfsmittel geht. [...] Trotz fließender Übergänge scheint es sinnvoll, diese angewandten Bereiche als Pseudotechnologien von Parawissenschaften abzugrenzen." [11]

Wunder bemerkt dazu: "Nirgendwo in diesem lexikalischen Eintrag wird eine Unterscheidung der Begriffe >Parawissenschaft< und >Pseudowissenschaft< vorgenommen, sie werden stets im Rahmen des Kürzels >P.< einfach synonym gesetzt. Hier spiegelt jener Eintrag im GWUP-Lexikon gut die übliche Praxis innerhalb dieser und anderer >Skeptiker<-Organisationen." [12] Die beiden Begriffe Pseudowissenschaft und Parawissenschaft als Synonyme zu verwenden, degradiert sie jedoch zu auswechselbaren 'Worthülsen', die nicht nur keinen Sinn ergeben, wenn es um eine tatsächlich wissenschaftliche Untersuchung der damit bezeichneten Aussagesysteme bzw. Phänomene geht, sondern deren Gebrauch ganz im Gegenteil - frei nach der Devise: "Das ist doch ohnehin alles nur Unsinn!" - ihre wissenschaftliche Untersuchung sogar verhindern soll.

So stellte etwa Marcello Truzzi (1935-2003) im Rahmen seiner Kritik des 'Pseudo-Skeptizismus' [13] fest: "Nichtsdestotrotz gibt es manche Personen, die behaupten im Namen der Wissenschaft zu sprechen, wenn sie fordern, dass nun ein Schlussstrich unter die Erforschung bestimmter Themen gezogen werde müsse. Obwohl Wissenschaft nur sagen kann, dass außergewöhnliche Behauptungen ziemlich unwahrscheinlich sind, tun manche Kritiker so, als ob wir bestimmte Ereignisse von vornherein als unmöglich ansehen könnten, weshalb entsprechende Untersuchungen überflüssig seien. Solche Verteidiger des Status quo treten oft durch Lächerlichmachung und sarkastische Rhetorik hervor, die im normalen wissenschaftlichen Diskurs als unzivilisiert angesehen wird. Die Wissenschaftssoziologen Harry Collins und Trevor Pinch gingen so weit, derartige Aktivitäten als >vigilantism< zu charakterisieren, als eine Aktivität von selbsternannten Aufpassern und Wächtern der Wissenschaft." [14]

Mit ihren terminologischen Verwirrspielen um so genannte "Pseudowissenschaft" und "Parawissenschaft" scheint es jenen "Aufpassern und Wächtern der Wissenschaft" in der jüngeren Vergangenheit jedenfalls gelungen zu sein, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Scientific community einige Konfusion zu erzeugen und einem auf Abgrenzung und "debunking" (Widerlegung und Bekämpfung) reduzierten Umgang mit devianten Aussagensystemen Vorschub zu leisten. [15] Dazu konstatiert beispielsweise Marcel Bohnert: "Die Bezeichnungen Para- und Pseudowissenschaft werden oft synonym verwendet. Beispielsweise bezeichnet Holton beide Varianten der Wissenschaft zusammenfassend als >Anti-Wissenschaft< [16] und Robert Park fasst falsche, Pseudo- und betrügerische Wissenschaft unter dem Oberbegriff >Voodoo-Science< zusammen. [17] Auch wenn sich Para- und Pseudowissenschaften nicht präzise voneinander trennen lassen, besteht jedoch ein grundlegender Unterschied in den jeweiligen Methoden. Pseudowissenschaften geben sich nach außen hin zwar den Anschein von Wissenschaftlichkeit, sind es jedoch im Grunde genommen nicht, da sie mit einem wissenschaftlich nicht anerkannten Methodenrepertoire aufwarten. Parawissenschaftliche Aussagen hingegen erweisen sich zumindest teilweise als anwendbar. [18] Pseudowissenschaftliche Publikationen siedeln sich vorrangig im Bereich der Lebenshilfe und der Esoterik an. Ihr Inhalt richtet sich vor allem an ein nicht wissenschaftliches Publikum, an so genannte >belief systems<." [19]

Halten wir dazu kurz fest, dass es nicht zuletzt auch dem ideologisch motivierten, synonymisierenden Gebrauch (deutlicher formuliert: Missbrauch) der Begriffe Pseudowissenschaft und Parawissenschaft durch scientistische, neo-scholastische und pseudo-skeptische Kreise geschuldet scheint, dass sie sich inzwischen kaum mehr "präzise voneinander trennen lassen". Immerhin hat dieser 'Abusus' durch die Anhänger eines neuen, in wissenschaftlichem Gewand auftretenden, `Obskurantismus unter anderen Vorzeichen´ offenbar auch sein Gutes gehabt.

Letztlich hat er nämlich diejenigen im, unter dem ständigen Generalverdacht der Pseudowissenschaftlichkeit stehenden, Lager der Grenzwissenschaften, die ihre Arbeit als durchaus wissenschaftlich begreifen, zu einem zunehmend kritisch-reflektiven Umgang mit der eigenen Forschung und deren Gegenständen gedrängt. Besonders im alles andere als 'metaphysischen' Bereich der so genannten Kryptowissenschaften ist diese Tendenz seit geraumer Zeit zu erkennen, etwa auf dem Gebiet der Kryptozoologie, wo sich Vereinigungen, wie die International Society of Cryptozoology (ISC) (die leider nicht mehr existiert) oder die Interessengemeinschaft Kryptozoologie für die Anerkennung dieser Disziplin als 'reguläre' Wissenschaft einsetzen bzw. eingesetzt haben. Nennenswert sind im Zusammenhang mit solchen grenzwissenschaftlichen Professionalisierungs-Ansätzen auch - für das Gebiet der Präastronautik - die "Eschweger Erklärung zur Paläo-SETI-Forschung", und - im Bereich der Atlantisforschung / Atlantologie - die Charta der Atlantisforschung sowie der Alternativ-Entwurf dazu aus nonkonformistischer Sicht.

Aber auch im schulwissenschaftlichen Bereich akademischer Forschung wird nicht nur der Begriff Pseudowissenschaft immer kritischer betrachtet, sondern auch die Untersuchung der Gegenstände vermeintlich pseudowissenschaftlicher "Aussagensysteme" (und somit auch die Untersuchung dieser Systeme selbst) erfolgt inzwischen auf einer weitaus differenzierteren Ebene als noch wenige Jahrzehnte zuvor. Maßgeblichen Einfluss übt hier eine junge Disziplin namens Anomalistik aus, deren Aufblühen sich durchaus auch als Entstehen einer wissenschaftliche Gegenbewegung zum Pseudo-Skeptizismus verstehen lässt. [20]

Eine Definition des Begriffs Anomalistik, der von dem Anthropologen und Neo-Katastrophisten Roger W. Wescott [21] eingeführt wurde und sich "auf die zunehmend interdisziplinäre Untersuchung von wissenschaftlichen Anomalien (angebliche außergewöhnliche Ereignisse, die durch gegenwärtig akzeptierte wissenschaftliche Theorien nicht erklärbar scheinen)" [22] bezieht, finden wir auf den Webseiten der Gesellschaft für Anomalistik e.V.

Dort heißt es: "Dieser Ansatz wird heute in erster Näherung durch einige voneinander unabhängige Organisationen und Zeitschriften repräsentiert. Am bekanntesten sind insbesondere die durch den Astrophysiker Peter Sturrock gegründete >Society for Scientific Exploration< (SSE) mit ihrer Zeitschrift Journal of Scientific Exploration, das mehrbändige >Sourcebook Projekt< [23] von William Corliss, das >Center for Scientific Anomalies Research< des Soziologen Marcello Truzzi in Verbindung mit der Zeitschrift Zetetic Scholar, die Fortean Studies unter dem Herausgeber Steve Moore, sowie die von Patrick Huyghe und Dennis Stacy redigierte Zeitschrift The Anomalist. Personen, die einen solchen Ansatz verfolgen, werden >Anomalisten< genannt." [24]

Eine Vorreiterrolle bei dem zu beobachtenden Umdenkprozess dürften derzeit aber gerade auch die Wissenschaftshistoriker spielen, die immer weniger geneigt scheinen, mit dem obskuren Begriff Pseudowissenschaft zu operieren. Dazu heißt es bei M. Hagner: "In der Wissenschaftsgeschichte ist in neuerer Zeit ein bemerkenswerter Wandel zu konstatieren [...] Das im Jahr 2003 erschienene 'Oxford Companion to the History of Modern Science' will von Pseudowissenschaft nichts mehr wissen. Der Artikel >Pseudoscience and quackery< zählt auf, was alles darunter subsumiert worden ist, kommt dann aber zu dem Schluss, dass man an historischer Einsicht mehr verliert als gewinnt, wenn man Phrenologie, Mesmerismus oder Parapsychologie retrospektiv nach den Kategorien von >wahrer< und >Pseudo-Wissenschaft beurteilt. [25]

Noch gravierender erscheint der neue Umgang mit dem Begriff >Pseudowissenschaft<, wenn man die jährlich erscheinende 'ISIS Current Bibliographie' zu Rate zieht. Hierbei handelt es sich um jene maßgebliche Bibliographie der neuen Buch- und Zeitschriftenpublikationen, die als Appendix zu der am weitesten verbreiteten und renommiertesten wissenschaftshistorischen Fachzeitschrift erscheint..." Bisher setzte, wie Hagner erläutert, "das ISIS-Klassifikationssystem voraus, dass Pseudowissenschaft ein abgrenzbares und eigenständiges Feld ist, das strikt von der Wissenschaft abgetrennt werden kann, wie auch immer diese Trennung begründet wird. Eine solche Klassifikation, die verschiedene historische Phänomene über mehrere Epochen hinweg zusammenbindet, mag heuristische Vorteile gehabt haben, einen verbindlichen Charakter hatte sie nicht." Im Jahr 2002 wurde jedenfalls bei der ISIS-Bibliographie, wie es bei Hagner weiter heißt, "eine grundlegende Reform vorgenommen, bei der die Kategorie Pseudowissenschaft vollständig und ersatzlos aus der Bibliographie verschwunden ist." [26]

"Aus diesen Veränderungen lassen sich", wie Hagner resümiert, "zwei Erkenntnisse ableiten. Erstens hat das offizielle Organ der amerikanischen >History of Science Society< den Begriff Pseudowissenschaft aufgegeben. Es handelt sich um keinen, unter einer einheitlichen Prämisse erforschbaren Gegenstand mehr. Dem Begriff wird nicht mehr zugetraut, eine erklärende, zusammenfassende oder organisierende Rolle zu spielen, um verschiedenartige historische Phänomene wie Magie, Astrologie oder Parapsychologie zu verstehen. [...] Zweitens werden durch diese Umverteilung die früher unter diesem Begriff zusammengefassten Phänomene in einen neuen Bewertungszusammenhang gestellt. Astrologie steht als Disziplin gleichberechtigt neben Astronomie, Alchemie neben Chemie, Phrenologie neben Assoziationspsychologie oder Psychophysiologie. Mit dieser Gleichsetzung hat sich die Wissenschaftsgeschichte eines Begriffs entledigt, den sie jahrzehntelang benutzt, aber nicht weiter hinterfragt hatte." [27]

Um nun abschließend dem möglichen Missverständnis vorzubeugen, die genannten "Außenseiter"-Disziplinen - oder auch all die von Hagner nicht erwähnten alternativen Forschungsgebiete - seien mit der Entfernung des Begriffs Pseudowissenschaft aus dem wissenschaftshistorischen Diskurs quasi 'habilitiert' und als legitimer Bestandteil des 'Real existierenden Wissenschaftsbetriebs' anerkannt worden: dem ist selbstverständlich nicht so! Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit alternativer Forschungsgebiete geht lediglich in eine neue Runde, von der zu hoffen ist, dass sie mit größerem Erkenntnis-Gewinn geführt werden wird als die zu Ende gehende, die mit dem Ausgang des II. Weltkriegs und dem Beginn des nachfolgenden 'Kalten Kriegs' zwischen den Ost- und Westmächten eingeläutet wurde. [28]

Diejenigen, die sich (gerade im universitären Bezirk) mit der 'Wissenschaft von der Wissenschaft' befassen, dürften nun jedenfalls, von der terminologischen Altlast "Pseudowissenschaft" befreit, nach differenzierteren Kriterien zur Betrachtung und Bezeichnung devianter Forschung suchen - wovon sowohl die Schul- als auch die Grenzwissenschaften nur profitieren können. Wer dagegen auch weiterhin mit diesem terminus horribilis hausieren gehen möchte, wird damit künftig wohl kaum mehr erreichen, als sein Sektierertum und seine Inkompetenz mehr als deutlich zur Schau zu stellen.


Anmerkungen und Quellen

  1. Anmerkung zu Michael Hagner: "Studium der Medizin und Philosophie an der FU Berlin; 1986 Medizinisches Staatsexamen und Approbation; 1987 Dr. med; 1994 Habilitation (Geschichte der Medizin); seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Publikationen (Auswahl): 'Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn', Berlin 1997; 'Ansichten der Wissenschaftsgeschichte', Frankfurt/M. 2001 (Hg.); 'Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung', Göttingen 2004; 'Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen', Frankfurt/M. 2005 (Hg.); 'Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung', Göttingen 2006" --- Quelle: Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel und Christina Wessely (Hg.): "Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte", Suhrkamp 2008, S. 463
  2. Quelle: Martin Marheinecke, "An den Grenzen der Wissenschaft"
  3. Anmerkung: Wer derzeit (Oktober 2009) das englischsprachige Äquivalent Pseudoscience 'googelt', kommt sogar auf ca. 1.070.000 Treffer!
  4. Quelle: Michael Hagner, "Bye-bye science, welcome pseudoscience? Reflexionen über einen beschädigten Status", in: Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel und Christina Wessely (Hg.): "Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte", Suhrkamp 2008, S.21
  5. Red. Anmerkung: Den wichtigen Bereich der Kritik des Begriffs Pseudowissenschaft aus wissenschaftstheoretischem Blickwinkel können wir im Rahmen der vorliegenden Betrachtung leider nur streifen. Hagner verweist im Hinblick auf sie zu Recht auf Paul Feyerabend und auf dessen radikale Demontage des Wissenschafts-Bildes Karl Poppers, welcher seinerzeit maßgeblich zur Implementierung des Begriffs Pseudowissenschaft in den wissenschaftstheoretischen Diskurs beigetragen hat. "Feyerabends radikale Historisierung der Wissenschaften sowie die eklatanten Schwierigkeiten, Pseudowissenschaft klar zu definieren, haben den meisten Wissenschaftstheoretikern gründlich die Freude daran verdorben, sich noch weiter mit dem Demarkationsproblem zu beschäftigen." (M. Hagner, op. cit., S. 38)

    Der Wissenschaftshistoriker Dr. Horst Friedrich kritisiert die, aus wissenschaftsphilosophischer Sicht "simplistische schulwissenschaftliche Vorstellung von >Wissenschaft< und >Pseudowissenschaft<", die "von der Realität weit entfernt" sei. Dort stelle man sich diese beiden Phänomene quasi als "zwei nebeneinander im Raum schwebende Planeten" vor: "auf dem einen leben die Personen, die >Wissenschaft< (= Schulwissenschaft) betreiben, getrennt davon auf dem anderen jene, die sich mit >Pseudowissenschaftlichem< (= Unwissenschaftlichem) befassen. Es handelt sich gewissermaßen um zwei Welten. Diese Vorstellung übersieht das Faktum, dass es unter den Lehrmeinungen unserer Establishment-Wissenschaften von (aus streng wissenschaftsphilosophischer Sicht) Fragwürdigkeiten und Ungesichertem nur so wimmelt. Es ist von daher also selbstevident, dass diese beiden vermeintlich so unterschiedlichen >Planeten< in Wirklichkeit einander so unähnlich gar nicht sind. Man denke nur an die im Schoße der Establishment-Wissenschaft kreierten, unheilstiftenden Lehrmeinungen von vermeintlich existierenden, streng voneinander getrennten >Rassen< der Menschheit. War das nicht auch pseudowissenschaftlich, oder gar >Scharlatanerie<?" (Quelle: Dr. Horst Friedrich, "Schulwissenschaft - Parawissenschaft - Pseudowissenschaft", 2003)

    Bei Wikipedia wird zudem u.a. auf die Kritik des Wissenschaftstheoretikers Larry Laudan am Begriff Pseudowissenschaft verwiesen. Nach Laudan werde er "überwiegend zum Zweck der Wertung und Ausschließung verwendet, sei aber nicht rational oder intersubjektiv fundiert. Eine bestimmte Begriffsbestimmung ist zwar möglich. Wenn diese aber lediglich zur Begründung des Ein- oder Ausschlusses bestimmter Disziplinen diene, so sei dies ein wissenschaftsfremder Zweck. Eine klare Trennlinie zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft oder zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft gebe es faktisch schon deshalb nicht, weil kein Vorschlag >die Zustimmung von einer Mehrheit der Philosophen erhalten würde<. Laudan fordert, den Begriff Pseudowissenschaft nicht mehr zu verwenden. Er sei eine >hohle Phrase<, die nur unsere Gefühle ausdrücke." (Quelle: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, Stichwort: Pseudowissenschaft. Stand: 18.10.09. Dort wird verwiesen auf: L. Laudan, "Beyond Positivism and Relativism", Boulder: Westview Press, 1996), S. 210 sowie S. 218–219 u. S. 222)
  6. Quelle: M. Hagner, op. cit., S.21-22
  7. Anmerkung: Über den sprichwörtlichen Abgrund, der zwischen Anspruch und Realität dieser Weltanschauungs-Bewegung klafft, heißt es auf der Skepiker-kritischen Webseite Skeptizismus.de: "Die Bewegung begreift sich als eine gesellschaftliche Avantgarde zur Verteidigung dessen, was sie selbst für >Vernunft< und >Rationalität< hält. Ihr Ziel ist die Verbreitung einer an die historische Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts angelehnten (leider kaum kritisch reflektierten) naturalistisch-szientistischen Weltanschauung sowie - vor allem - die öffentliche Bekämpfung von allen gesellschaftlichen Strömungen oder Facetten der Realität, die als Bedrohung dieses ideologischen Programms empfunden werden. Zu deren Abwehr werden als zentrale Kampfbegriffe Schlagwörter wie >pseudowissenschaftlich<, >irrational<, >Aberglauben<, >paranormal< etc. eingesetzt, während man sich selbst als >skeptisch< oder >wissenschaftlich< beschreibt. Letzteres erweist sich bei näherer Prüfung jedoch als kaum haltbar. Tatsächlich hat die sog. >Skeptiker<-Bewegung wenig bis gar nichts mit der philosophischen Strömung des Skeptizismus zu tun, und sie führt in Wirklichkeit auch keine wissenschaftlichen Studien zu den von ihr mit großem Aufwand bekämpften Thesen Andersdenkender durch, urteilt in aller Regel nicht auf der Basis des tatsächlichen wissenschaftlichen Forschungstandes, sondern nur auf der Basis der vermuteten Kompatibilität mit dem eigenen Weltbild." (Stand: 15.10.09)
  8. Anmerkung: Dazu und zu seiner Kritik an der GWUP siehe vor allem: Edgar Wunder, "Das Skeptiker-Syndrom"
  9. Red. Anmerkung: Vergleiche zu dieser konzeptionellen Synonymie bei Atlantisforschung.de auch den Beitrag "Parawissenschaft - Kritische Bemerkungen zur Definition und Verwendung eines umstrittenen Begriffs" (bb)
  10. Quelle: Quelle: Edgar Wunder, "Die >Skeptiker<-Bewegung in der kritischen Diskussion" (PDF-File 246,15 KB), S. 19
  11. Quelle: GWUP (Hg.), "Lexikon der Parawissenschaften", 1999; zit. nach: Edgar Wunder, Die >Skeptiker<-Bewegung in der kritischen Diskussion (PDF-File 246,15 KB), S. 19
  12. Quelle: Edgar Wunder, "Die >Skeptiker<-Bewegung in der kritischen Diskussion" (PDF-File 246,15 KB), S. 19
  13. Anmerkung: Zur Kritik des Pseudoskeptizismus siehe auch die Webseiten des Scientific Committee to Evaluate PseudoSkeptical Criticism of the Paranormal (SCEPCOP)
  14. Quelle: Marcello Truzzi, "Über einige unfaire Umgangsweisen gegenüber paranormalen Behauptungen", bei: Skeptizismus.de
  15. Anmerkung: Es erscheint immerhin bemerkenswert, dass auch im Bezirk universitärer Forschung - deutlich abzugrenzen vom Umfeld des allenfalls 'vulgärwissenschaftlichen' Pseudo-Skeptizismus - deviante "Außenseiter"-Forschungen fast grundsätzlich nicht in Hinblick auf ihre mögliche 'Wissenschaftlichkeit', sondern unter Bezug auf ihre vermutete 'Unwissenschaftlichkeit' erfasst oder untersucht werden. Siehe etwa: Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Gerhard Vollmer, "KANDIDATEN FÜR PSEUDOWISSENSCHAFTEN" (2004), bei: Seminar für Philosophie an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig (wobei es Prof. Vollmer hoch anzurechnen ist, dass er dort feststellt, einige "Kandidaten" auf dieser Liste stünden "zu Unrecht" unter dem Verdacht der Pseudowissenschaftlichkeit)
  16. Siehe: Gerald Holton u. Martina Bauer, "Wissenschaft und Anti-Wissenschaft" Wien (Springer) 2000, S. 169
  17. Siehe: Robert Park, "Fauler Zauber. Betrug und Irrtum in den Wissenschaften. Wie wir reingelegt werden und uns schützen können.", Hamburg (Europa) 2002, S. 19
  18. Siehe: Gerald L. Eberlein, "Schulwissenschaft - Parawissenschaft - Pseudowissenschaft", Stuttgart 1991, S. 8
  19. Quelle: Marcel Bohnert, "Verlorengegangene Ethik? Betrug und Fälschung in der Wissenschaft", GRIN Verlag, 2007, S.8-9
  20. Anmerkung: Es erscheint jedenfalls keineswegs als Zufall, dass es sich bei einer ganzen Reihe namhafter Anomalisten - etwa bei Marcello Truzzi, Edgar Wunder, Rudolf Henke und Dennis Rawlins - um 'Aussteiger' aus der so genannten Skeptikerbewegung handelt.
  21. Siehe: Wescott, R. (1973): Anomalistics: The Outline of an Emerging Area of Investigation. Paper prepared for Interface Learning Systems --- sowie: Wescott, R. (1980): Introducing Anomalistics: A New Field of Interdisciplinary Study. In: Kronos 5, 36
  22. Marcello Truzzi, "Was ist Anomalistik?", bei: Gesellschaft für Anomalistik e.V.
  23. Red. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch: "Über rätselhafte Relikte der Vergangenheit, das Sourcebook-Project und eine Koryphäe der Anomalistik" (bb)
  24. Quelle: ebd.
  25. Siehe: Roger Cooter, "Pseudoscience and quackery", in: John L. Heilbron (Hg.), "Oxford Companion to the History of Modern Science", Oxford 2003, S. 683f.
  26. Quelle: Michael Hagner, op. cit., S. 27-29
  27. Quelle: ebd., S. 29-30
  28. Anmerkung: Der Verfasser schließt sich hier M. Hagners Auffassung an, der davon ausgeht, der "Aufstieg des Demarkationskriteriums" (die immer stärkere Betonung des Problems der Unterscheidung zwischen' Wissenschaft' und 'Pseudowissenschaft') im Bereich der Wissenschaftstheorie habe "politische Gründe" gehabt, "die im Zeitalter der Extreme begründet liegen. Angesichts der politischen und ideologischen Verwerfungen, der vielfältigen und unübersichtlichen Vermischungen von Wissenschaft und Politik hat sich die Wissenschaftstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg als erkenntnistheoretischer Gesetzgeber und gleichzeitig als Diskurspolizei installiert, die die Gesetze und Regeln ordentlicher wissenschaftlicher Tätigkeit definiert und dann auch noch überwacht hat." (Quelle: op. cit., S. 34) Siehe zu diesem Problem-Komplex auch: Jens Thiel und Peter Th. Walter, ">Pseudowissenschaft< im Kalten Krieg. Diskreditierungsstrategien in Ost und West", in: Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel und Christina Wessely (Hg.), "Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte", Suhrkamp 2008