Diffusionismus im Umbruch

Eine kleine Geschichte des Diffusionismus, Teil V


Abb. 1 Alfred L. Kroeber (links) und Ishi, 1911

(bb) Obwohl das Phänomen der kulturellen Diffusion sowie ihre Bedeutung als Gegenstand anthropologischer Forschung in den USA 1940 durch Alfred L. Kroeber (Abb. 1) (1876-1960), einen Schüler von Franz Boas, mit der Publikation seines Papiers Stimulus Diffusion [1] erneut ins Gespräch gebracht wurden, war der Diffusionismus als Ideengebäude nun weitgehend aus dem internationalen ethnologie- bzw. anthropologie-theoretischen Diskurs verschwunden. Allerdings blieben diffusionistische Denk- und Forschungsansätze zur Mitte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Minderheitenposition auf dem Gebiet der Altamerikanistik bestehen.

Während sich der Mainstream dieser Disziplin auf die Lehrmeinung verständigt hatte, die Entwicklung der präkolumbischen Kulturen Amerikas sei völlig isoliert von jenen der anderen Kontinente erfolgt (Isolationismus), verfocht eine Minderheit von Forschern weiterhin die Auffassung, es habe solche Einflüsse in der Tat gegeben, insbesondere auf die Entstehung und Entwicklung der großen Kulturen Mittelamerikas. Ende der 1940er Jahre war Gordon F. Ekholm (1909-1987), seinerzeit eine "Autorität der präkolumbischen Archäologie Mexikos und Mittelamerikas" [2] und damals Teilhabender Kurator (associate curator; ab 1957 Kurator) des American Museum of Natural History (AMNH) in New York, ein herausragender Vertreter dieser Annahme, die bereits Alexander von Humboldt und später auch Fritz Graebner bezüglich von China und Indien ausgehender, kultureller Transfusionen nach Mittelamerika geäußert hatten. [3]

Gemeinsam mit dem österreichischen Ethnologen Robert von Heine-Geldern (1885-1968), dem Begründer der Südostasienwissenschaft [4] (einer der wenigen 'klassischen Diffusionisten', die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein in der Ethnologie wesentliche Akzente setzten), präsentierte Ekholm 1949 im AMNH eine umfangreiche Ausstellung, mit der die beiden Fachwissenschaftler Parallelen zwischen den entwickelten Kulturen im südlichen und östlichen Asien und der mittelamerikanischen Zivilisation der Maya aufzeigten. Diese kulturellen Übereinstimmungen belegten ihrer Meinung nach, dass aus Asien stammende Vorfahren der Maya einst über den Pazifik nach Mittelamerika eingewandert sind. [5] Neben diversen, separat verfassten Publikationen zu diesem Thema veröffentlichten sie auch mindestens zwei gemeinsame Arbeiten dazu. [6]

In den folgenden Jahrzehnten (den 1960er und 1970er Jahren) gehörten zwei Emigranten aus Deutschland, die in Mexiko ihre Wahlheimat gefunden hatten, zu den wichtigsten Vertretern dieser außenseiterischen Meinung in der Academia, nämlich Paul Kirchhoff (1900-1972) und Alexander von Wuthenau (1900-1994). Kirchhoff, ein studierter Ethnologe, der Deutschland 1931 aufgrund seiner links-kommunistischen Ansichten und Aktivitäten verlassen musste, avancierte später im mexikanischen Exil zu einer der herausragenden Persönlichkeiten der mittelamerikanischen Anthropologie. Als Marxist, der die Anthropologie als historische Disziplin verstand und sich selber als "Historiker der Strukturen" bezeichnete [7], betrachtete er den Ursprung und die Entwicklung von Staaten bzw. Klassengesellschaften materialistisch und von dem Hintergrund (inter-)kultureller Beziehungsgeflechte. Das Niveau materieller Entwicklung im präkolumbischen Mittelamerika hielt er für nicht weit genug entwickelt, um die Komplexität des politischen und religiösen Überbaus der dortigen Hochkulturen erklären zu können. Dies führte ihn, über den Vergleich von Kunstobjekten, Religionen und Kalendersystemen, schließlich auch zur Annahme erheblicher transpazifischer Einflüsse - insbesondere aus Indien - auf die Entwicklung dieser Kulturen. [8]

Abb. 2 Vere Gordon Childe begann Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Aufarbeitung einiger theoretischen Mängel früher Diffusionskonzepte.

Alexander von Wuthenau, vormals als Diplomat in Nord- und Südamerika tätig, zog es als Gegner der Nationalsozialisten vor, nach deren Machtergreifung nicht nach Deutschland zurückzukehren. [9] Im mexikanischen Exil wurde er als Professor für Kunst an der Universidad de las Américas in Mexico City tätig [10], wobei einer seiner zentralen Interessenschwerpunkte im Bereich der Kunstgeschichte des präkolumbischen Mittelamerika lag. [11] Aufgrund seiner kunsthistorischen und ethnologischen Studien gelangte A. von Wuthenau spätestens in den 1960er Jahren zur Ansicht, dass Mesoamerika eine Art kulturellen Schmelztiegel dargestellt habe, in den auch Einflüsse aus der Alten Welt eine wesentliche Rolle gespielt haben. [12] Im Gegensatz zu Ekholm, Heine-Geldern und Kirchhoff war er jedoch der Überzeugung, dass dieser ethnokulturelle 'Input' nicht nur von Asien her, sondern auch transatlantisch von Europa und Afrika aus erfolgt sei. [13] A. von Wuthenaus nonkonformistische Annahme massiver afrikanischer Einflüsse auf die Kultur der Olmeken wurde auch von dem amerikanischen Historiker Ivan van Sertima (1935-2009) vertreten und international popularisiert. Van Sertima, Außerordentlicher Professor für Afrikanische Studien an der Rutgers University in New Jersey, der in seinem 1976 erstveröffentlichten Hauptwerk [14] gegen eine ethnozentrisch geprägte Sichtweise zur Besiedlungsgeschichte Amerikas opponierte und Argumente für 'schwarzafrikanische' Beiträge zur präkolumbischen Geschichte des Doppelkontinents (insbsondere Mittelamerikas) vorlegte, sorgte damit für den Ausbruch eines wütenden und lange anhaltenden Gelehrtenstreits, in dem ihm und anderen Forschern, welche diese Meinung vertraten, "afrozentrischer Hyperdiffusionismus" vorgehalten wurde. [15]

Für die Aufarbeitung einiger theoretischer Defizite des klassischen Diffusionismus sorgte Mitte des 20. Jahrhunderts Vere Gordon Childe (Abb. 2) (1892-1957), ein in Australien geborener, herausragender marxistischer Archäologe und Archäologie-Theoretiker. [16] So hatten Kritiker des Diffusionismus bisweilen hervorgehoben, dass dessen Anhänger keine Erklärung dafür liefern konnten, warum bestimmte kulturelle Charakteristika sich verbreiten, andere aber nicht [17] (siehe: Transferenz). Genau hier setzte Childe an und untersuchte in seinem, posthum erschienenen, Werk "Soziale Evolution" [18] u.a. die kulturellen Voraussetzungen, die bei einem Diffusionsprozess in der >empfangenden< Gesellschaft gegeben sein müssen, damit neue Ideen (Innovationen) von ihr aufgenommen werden können. In Childes, evolutionistische Vorstellungen integrierendem, Diffusionismus-Konzept - bisweilen auch als modified diffusionism (modifizierter Diffusionismus) bezeichnet [19] -, setzte er durchaus auch lokale kulturelle Entwicklung ohne Fremdeinflüsse voraus. [20]

Abb. 3 Thor Heyerdahl war der wohl bekanntste Repräsentant des Diffusionismus in der Mitte und zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.

Die beiden zentralen Persönlichkeiten, die ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer enormen Popularisierung diffusionistischer Vorstellungen und - zumindest in außenseiterischen Kreisen - zur Renaissance eines kulturhistorischen Ansatzes in der Menschheits- und Zivilisations-Geschichtsforschung beitrugen, sind Thor Heyerdahl (1914-2002) und Barry Fell (1917–1994). Heyerdahl, ein norwegischer Anthropologe, Zoologe, Ethnologe und Botaniker führte die Experimentelle Archäologie nicht nur als Instrument diffusionistischer Forschung ein, sondern machte diese geschichtswissenschaftliche Methode auch außerhalb des universitären Betriebs bekannt. Während ihm seitens der Verfechter des isolationistischen Paradigmas wiederholt 'Hyperdiffusionismus' vorgeworfen wurde [21], vertrat er tatsächlich eine gemäßigt-diffusionistische Position [22]. Heyerdahl (Abb. 3) ging es vor allem darum, die Verfügbarkeit hochseetüchtiger Schilfboote und Balsaflöße für interkontinentale Reisen prä- und protohistorischer Völker - lange vor Kolumbus' Zeiten (also schon vor Beginn des europäischen Zeitalters der Entdeckungen) - zu beweisen. Dies gelang ihm mittels vieler Expeditionen (u. a. zur Osterinsel) und archäologischen Projekten, die er höchst erfolgreich in Buchform und mit Dokumentarfilmen bekannt machte.

Vor allem im angelsächsischen Sprachraum wurde Barry Fell populär, der als Professor für Zoologie am Harvard Museum für Vergleichende Zoologie arbeitete. Seine Leidenschaft als Privatforscher, der er sich nach seiner Penionierung ganz widmete, waren die Epigraphie und das Studium vermutlich altweltlicher Relikte in Amerika, insbesondere solcher Artefakte, die mit Inschriften versehen waren. Während der wissenschaftliche Mainstream derartige Fundstücke de facto generell als Fälschungen oder Fehlinterpretationen betrachtete, plädierte Fell in vielen Fällen für deren Authentizität und befasste sich mit der Entzifferung der Gravuren und ihrer Zuoordnung zu Alten Schriftkulturen Europas, Afrikas und Asiens. Sein 1976 erschienenes Werk America B.C, in dem er eine Zwischenbilanz seiner Studien vorlegte, war ein beachtlicher Publikumserfolg und "erschütterte die scientific community in ihren Grundfesten" [23] Ähnlich wie der junge Thor Heyerdahl und Ivan van Sertima sah er sich nachfolgend einer Welle von Kritik (insbesondere durch Archäologen) ausgesetzt, die bisweilen auch ad hominem und mit vagen Rassismus-Vorwürfen [24] geführt, und aus dem Lager akademischer Diffusionisten heraus mit ähnlicher Schärfe erwidert wurde. [25] Im Gegensatz zu Heyerdahl, der am Ende seiner Forscherlaufbahn ein weitgehend hohes wissenschaftliches Ansehen genoss, gilt Fell in der scienific community noch heute weitgehend als eine Art persona non grata und als 'Pseudoarchäologe' [26].

Weitere bekannte Forscher/innen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die diffusionistische Annahme präkolumbischer transozeanischer Kontakte verfochten, sind der Archäologe und Anthroploge Harold S. Gladwin (1883–1983), seine Fachkollegin Betty Meggers (1921-2012), die Archäologin Alice Beck Kehoe sowie der Orientalist und Semitist Cyrus H. Gordon (1908-2001) aus den USA, die spanische Privatforscherin und Schriftstellerin Luisa Isabel Álvarez de Toledo y Maura (1936-2008), die Ethnologin Dr. Christine Pellech aus Österreich und der argentinische Historiker Enrique de Gandía sowie sein Landsmann, der Geograph und Kartograph Paul Gallez (1920–2007). Die beiden letztgenannten Forscher gehören zu den Pionieren der Protokartographie, welche sie als neues, wichtiges Forschungs-Instrument bzw. -Feld in das Arsenal des Diffusionismus integrierten.


Fortsetzung: Der moderne Diffusionismus (bb)


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe: Alfred L. Kroeber (University of California - Berkeley), "Stimulus Diffusion", in: American Anthropologist, Vol. 42, No. 1, January - March 1940 (Link abgerufen: 23.06.2013)
  2. Quelle: Adriana Jimenez Greco und Christina M. Elson, "5. Archaeology of the Huasteca: The Ekholm Collection", bei: AMERICAN MUSEUM OF NATURAL HISTORY (DIVISION OF ANTHROPOLOGY) (abgerufen: 16.06.2013)
  3. Quelle: Answers; verwendet: Oxford Encyclopedia of Mesoamerican Cultures), unter: Paul Kirchhoff (abgerufen: 16.06.2013)
  4. Quelle: Claire Holt, In Memoriam: Robert Heine-Geldern, in: Indonesia, Volume 6, Oktober 1968, S. 188–192 (Online-Version abgerufen: 16.06.2013)
  5. Quelle: Peter B. Flint, "Dr. Gordon Ekholm, 78, a Curator At the Museum of Natural History", in: The New York Times (unter: Obituaries), 19. Dezember 1987 (Online-Version abgerufen: 16.06.2013)
  6. Siehe: Gordon F. Ekholm und Robert von Heine-Geldern, "The Civilization of Ancient America", in: Proceedings of the Twenty-Ninth International Congress of Americanists, University of Chicago Press, Chicago, 1951; sowie: Robert von Heine-Geldern und Gordon F. Ekholm, "Significant Parallels in the Symbolic Arts of Southern Asia and Middle America", University of Chicago Press, 1951
  7. Quelle: Heinz Krumpel, "Die deutsche Philosophie in Mexiko: ein Beitrag zur interkulturellen Verständigung seit Alexander von Humboldt", Peter Lang, 1999, S. 107
  8. Siehe: Paul Kirchhoff, "The Diffusion of a Great Religious System [from] India to Mexico", in: Acts, 36th International Congress of Americanists I (1964):91
  9. Quelle: Thomas Fitzner, "Auf der Suche nach dem wahren Amerikaner", in: Neue Vorarlberger Tageszeitung, 20. August 1988
  10. Quelle Donald N. Yates, "The Los Lunas Mystery Stone and Other Sacred Sites of New Mexico", Panther's Lodge, 2006, S. 12 (Fußnote 11)
  11. Siehe: Alexander von Wuthenau, "Tepotzotlan: Arte y color en México. Kunst und Farbe in Mexiko...", Von Stetten Fotocolor, 1940
  12. Siehe: Alexander von Wuthenau, "Unexpected Faces in Ancient America (1500 B.C.-A.D. 1500): The Historical Testimony of Pre-Columbian Artists", Crown Publishers, 1975
  13. Siehe: Alexander von Wuthenau, "América 5000 años de historia - presencia de japoneses, chinos, hindúes, nubios, fenicios, egipcios, libaneses, judíos, árabes, tártaros, ibero-celtas, vikingos y galeses antes de Colón", México (Diana), 1995
  14. Siehe: Ivan van Sertima, "They Came Before Columbus: The African Presence in Ancient America", 1976, Neuauflage: Random House Publishing Group, 2003
  15. Siehe z.B.: Bernard Ortiz de Montellano, Gabriel Haslip-Viera und Warren Barbour, "They Were NOT Here before Columbus: Afrocentric Hyperdiffusionism in the 1990s", in: Ethnohistory, Vol. 44, Issue 2 (1997), S. 199-234 (Link abgerufen: 20.06.2013) --- Zur Erwiderung bzw. Gegenrede siehe: Ivan van Sertima, "Early America Revisited", in: Journal of African Civilizations, New Jersey: Transaction Publishers, 1998, S. 143-152
  16. Quelle: Bernhard Brosius, Zum Fünfzigsten Todestag: Vere Gordon Childe, Archäologe - Marxist - Revolutionär (Mannheim, 2007), in: Inprekorr, 434/435, 29-32, 2008 (Online-Fassung abgerufen: 16.06.2014)
  17. Quelle: The Columbia Electronic Encyclopedia (nach: THE FREE DICTIONARY BY FARLEX), Stichwort: culture, Abschnitt: Theories of Culture (abgerufen: 16.06.2013)
  18. Siehe: Vere Gordon Childe, "Soziale Evolution", Frankfurt 1975; zuvor in engl. Sprache: "Social Evolution", World Pub., 1963
  19. Quelle: o.A., Archaeology Wordsmith, unter Diffusion; sowie: L. S. Klejn, Archaeology in Britain: a Marxist View, bei: Antiquity, Department of Archaeology, Durham University, South Road, Durham DH1 3LE, UK (beide abgerufen: 16.06.2013)
  20. Quelle: o.A., Archaeology Wordsmith, unter Diffusion
  21. Siehe: Martin Rundkvist, "Thor Heyerdahl and Hyperdiffusionism", Aardvarchaeology, Science Blogs, 4. Nov. 2010 --- Sally MacDonald und Michael Rice, ²Consuming Ancient Egypt", Routledge, 2003, S. 205
  22. Siehe: Thor Heyerdahl, "Discussions of Transoceanic Contacts: Isolationism, Diffusionism, or a Middle Course?", in: Anthropos, Bd. 61, H. 3./6. (1966), S. 689-707; sowie: Ders., "Isolationist or Diffusionist? (1971), bei: THE WHITE INDIANS OF NIVARIA (beide Links abgerufen: 20.06.2013)
  23. Quelle: William F. McNeil, "Visitors to Ancient America: The Evidence for European and Asian Presence in America Prior to Columbus", McFarland, 2005, S. 209
  24. Siehe z.B.: C. Lamberg-Karlovsky (in: SATURDAY REVIEW, 11. Dez. 1976, S. 6), Dean R. Snow (in: VERMONT HISTORY, Winter 1980, S. 33) und John R, Cole (in: CHRISTIAN SCIENCE MONITOR, 9. Juni 1980)
  25. Siehe: Norman Totten (Bently College), "EPIGRAPHIC RESEARCH IN AMERICA - Reply to Archaeologists Denunciations", in: The Epigraphic Society - Occasional Publications, Vol. 9 no 215 June 1981 (Link abgerufen: 20.06.2013)
  26. Siehe z.B.: Garrett G. Fagan , "Archaeological Fantasies: How Pseudoarchaeology Misrepresents The Past and Misleads the Public", Routledge, 2006, S. 157 (abgerufen: 21.06.2013)

Bild-Quellen:

1) Walden69 bei Wikimedia Commons, unter: File:Ishi.jpg
2) Matanya bei Wikimedia Commons, unter: File:Gordon Childe.jpg
3) Cezarika1 bei Wikimedia Commons, unter: File:ThorHeyerdahl.jpg